Helge Dorsch

Helge Dorsch
Interview aus ORPHEUS INTERNATIONAL, Berlin

Helge Dorsch vertritt die Auffassung, dass die Menschlichkeit im Kunstschaffen eine ganz wesentliche Rolle spielt. „Es sind die menschlichen Aspekte, die sich auch in der Musik im Endprodukt manifestieren. Die Harmonie der Musik ist nicht zu vermitteln ohne die Harmonie der Ausführenden.“ Daher bemüht sich Helge Dorsch bei jeder Produktion, ein angenehmes Ensembleklima zu schaffen. Das gilt auch für die Arbeit mit dem Orchester. Er hält wenig davon, diktatorisch seine Vorstellungen durchzusetzen. Die Erfahrung lehrt, dass die Orchester dann zwar reagieren, aber selten mit Intuition agieren. Auf diese Weise ist es ihm bislang gelungen, von allen von ihm betreuten Orchestern nicht nur akzeptiert zu werden, sondern - wie die Fachkritik ihm einhellig bescheinigt - auch durchweg optimale Ergebnisse zu erzielen. Jene Schwierigkeiten anderer Dirigenten, bei denen es sogar vorkommt, dass Orchester sich weigern, mit ihnen zusammenzuarbeiten, sind ihm fremd.

Dorsch äußert interessante Gedanken über die Musik, speziell über die Oper. Am Beispiel der „Zauberflöte“ führt er aus: „Viele Dirigentenkollegen machen den Fehler, ältere Werke nicht nur zu entstauben, sondern auch zu entzaubern. Damit wird man ihnen aber nicht gerecht. Um ältere Werke angemessen interpretieren zu können, reicht es nicht, die heute auf dem Markt befindlichen CDs zu hören und die Interpretationsmuster zu vergleichen. Man muss sich intensiver mit den Partituren beschäftigen. Das heißt, man muss die zeitgenössischen Beiträge über die damalige Musikpraxis studieren. Jedes Werk ist in eine bestimmte Zeit hineingeschrieben. Die historischen Umstände sind daher von großer Bedeutung. Nehmen sie beispielsweise Leopold Mozarts „Violinschule“. Dort steht alles über die Mozart-Interpretation drin. Das gilt auch für die „Flötenschule“ von Johann Joachim Quantz oder „Der Vollkommene Capellmeister“ von Johann Mattheson.

Dorsch ist ein Gedächtnisgenie. Er zitiert aus dem Kopf Leopold Mozart: „Eine kontrapunktische Struktur muss so ausgeführt werden, dass das menschliche Ohr sie noch verfolgen kann.“ Was aber wird heute gemacht? Das Allegro der „Zauberflöten“-Ouvertüre wird heute meist so heruntergehetzt, dass kein Ohr es mehr strukturell nachvollziehen kann. Es wird auf einen äußerlichen Effekt reduziert; die musikalische Idee wird verwässert. Am Beispiel von Karajan führt er aus: „Er war ein genialer Musiker und Geschäftsmann. Er wusste, dass die Welt belogen werden will. Daher hat er viele Werke sozusagen kulinarisiert und die Härten der Stücke beschönigt. Übrig blieb oft ein opulenter Leckerbissen wie z.B. seine „Carmen“-Einspielung. Dem steht die Interpretation von Prétre gegenüber, der das Werk gewissermaßen als knappe Federzeichnung konzipiert hat, wie sie eigentlich vom Komponisten vorgesehen ist. Demgegenüber ist Karajans Interpretation ein pastöses Ölgemälde. Was wird aber gekauft? Natürlich das Ölgemälde, also die schöne Lüge, und nicht die unbeschönigte Wahrheit.“

 

Helge Dorsch ist ein Operndirigent mit Leib und Seele, freut sich auf jede neue Herausforderung und wird wegen seiner gründlichen Arbeit von Solisten und Instrumentalisten gleichermaßen geschätzt. Für die Sänger bringt er viel Verständnis auf. So hält er es für nahezu unzumutbar, dass der Kammerton A von 432 Hertz aus der Zeit Verdis heute bereits auf 445 Hertz und mehr hochgetrieben worden ist. Ein hohes C vor einhundert Jahren entspricht damit in keiner Weise mehr einem hohen C aus der Gegenwart. Für die Sänger werden die Spitzentöne daher immer schwieriger und teilweise auch zur Qual. So ist zum Beispiel die höchste Note der Königin der Nacht heute bei extremer Stimmung ein Fis, während sie zur Zeit der Komposition eine kleine Terz niedriger lag und einem Es entsprach. Es ist daher auch nur zu verständlich, dass man kaum noch eine Königin der Nacht mit der notwendigen dramatischen Attacke findet. Diese extreme Höhe schaffen eigentlich nur Koloratursoubretten. Die gegenläufige Feststellung ist für die tiefen Stimmen zu machen. Heute findet man den tatsächlich schwarzen Bass, den echten Mezzo oder den tiefen Alt im früheren Sinn kaum mehr, weil die tiefen Töne sich in ähnlicher Weise nach oben verändert haben. In diesem Zusammenhang fällt Dorsch eine Anekdote ein: Bei einem „Don Pasquale“ in Ankara sprach ihn der Tenor an, warum die Orchesterstimmung heute so hoch sei. Er bekomme die Spitzentöne kaum noch. Dorsch versicherte ihm, er werde mit dem Orchester sprechen und abhelfen. In Wahrheit unternahm er nichts. Die psychologische Wirkung verfehlte aber ihr Ziel nicht. Nach der Pause steigerte sich der Tenor zu makellosen Spitzentönen. Nach der Aufführung bedankte er sich herzlich für die vermeintliche technische Hilfe.

Helge Dorsch möchte sich nicht auf ein Fach beschränken. Viele deutsche Dirigenten werden kurzerhand als Wagner- oder Strauss- Spezialisten festgelegt. Ihm liegt jedoch viel daran, offen für andere Fachrichtungen zu bleiben. Das mag auch daran liegen, dass er Sprachen ähnlich liebt wie die Musik und mittlerweile acht Sprachen fließend spricht. Das hilft ihm bei den weltweiten Engagements enorm, besonders wenn es um die Verständigung mit den Orchestern geht. Mit dieser Berufsauffassung dürfte Helge Dorsch in den nächsten Jahren noch von sich reden machen.